Eine Geschichte der Ausbeutung – Staat und soziale Reproduktion im Kapitalismus

SDS Hildesheim -Sozialistisch Demokratischer Studierendenverband

Stell dir vor der Arbeitswert, also der Wert, den du durch deine Arbeit generierst, ist ein ganzer Kuchen, von dem ein Stückchen abgeschnitten wird. Das ist dein Lohn. Der Rest des Kuchens, der allergrößte Teil (MEHRwert), landet in den Händen des Kapitalisten. Du wirst ausgebeutet. Du wirst für ein Vielfaches weniger vergütet, als deine Arbeitskraft wert ist. Marx arbeitete in „Das Kapital“ heraus, dass der Kapitalismus, um Kapital akkumulieren zu können, auf Menschen angewiesen ist, die ihre Arbeitskraft verkaufen. Somit bekommt die Arbeit den Status einer Ware, die du verkaufen musst und die von Kapitalisten gekauft wird (das ist dann dein Lohn). Diese Arbeitskraft muss reproduziert werden, denn Menschen haben grundlegende Lebensbedürfnisse wie Nahrungsmittel und Wohnraum. Menschen sterben, werden krank, müssen heranwachsen und ausgebildet werden, der Nutzen ihrer Arbeitskraft verliert mit den Jahren an Wert. Diese Reproduktionsarbeit scheint auf den ersten Blick keine Berücksichtigung im Bild des Kuchens zu finden. Doch sie ist allgegenwärtig, denn sie wird sowohl gebraucht, um den Kuchen (also den Arbeitswert) stetig frisch zu halten, als auch um neue Kuchen zu backen.

Nun ist es aber so, dass der Kapitalismus vor dem Widerspruch steht, möglichst viel Arbeitskraft für möglichst wenig Geld bekommen zu wollen, gleichzeitig die Ware Arbeitskraft aber auch möglichst lange zu erhalten. Die soziale Reproduktion ist also Grundvoraussetzung für das Funktionieren des Kapitalismus, denn sonst gäbe es keine Arbeiter*innen.

Im Haushalt werden diese reproduktiven Aufgaben (Kochen, Haushalt, Erziehung, Pflege, …) vorwiegend unbezahlt verrichtet, was dem Staat und dem Kapital zugute kommt. Dem Staat kommt dabei eine Kontrollfunktion zu, damit das kurzfristige Ausbeutungsinteresse nicht die langzeitige Reproduktion der arbeitenden Klasse untergräbt (d.h. damit die Arbeiter*innen sich nicht zu Tode schuften). Also zeigt sich die Funktion des Staates auch darin *, eine „nachhaltige“ Ausbeutung zu sichern, die den Arbeitswert eines Menschen so lange wie möglich und so günstig wie möglich aufrecht erhält. Der Sozialstaat ist ein Kompromiss für die arbeitende Klasse und den Kapitalismus und in erster Linie auch nur die Stütze kapitalistischer Herrschaftssysteme.

Der Staat unterstützt das hegemoniale Konzept der klassischen bürgerlichen Familie und sorgt unter anderem mit Arbeits- und Sozialgesetzgebung, durch das Versicherungs- und Rentensystem, sowie das Recht für Familien, etc . dafür, dass jene Familie für die Reproduktion herhält. Das ist für Staat und Kapital insofern praktisch, als dass so viel der Sorgearbeit zur Reproduktion der Arbeitskräfte im Privaten stattfindet und dem Staat umsonst zur Verfügung steht.

Damit ist der Kapitalismus also auch Springquell der Unterdrückung von Frauen, Inter*, Nicht-Binären und Trans*Personen, von denen erwartet wird, diese Arbeiten aus freien Stücken und ohne Kompensation zu verrichten.

Im Laufe der Zeit hat sich mit der Entwicklung des Kapitalismus und dessen Erzeugnissen, auch die Sphäre der Reproduktion verändert.- Ein Beispiel: Die Erfindung der Waschmaschine lässt die Reproduktionsarbeiten effizienter werden. Das ist für den Kapitalismus total praktisch, denn effiziente Wiederherstellung der Arbeitskraft sorgt für eine höhere Ausbeutungsrate. Die Arbeiter*innen können also länger und effizienter arbeiten.

Aber schauen wir uns diese, uns widerspenstige, Ideologie mal am Beispiel der Pflege als ein Teil der sozialen Reproduktionsarbeit genauer an.

Der Mechanismus des Kapitalismus ist krisenhaft und stößt früher oder später an Grenzen, denn der Mensch und die Natur können nicht unendlich ihrer Ressourcen bestohlen werden. Wir erleben das momentan alle am eigenen Leib: Corona. Aber auch hier ist es wichtig, zu sehen, dass es Menschen gibt, die mehr davon zu spüren bekommen, als andere, denn #wirbleibenzuhause ist ein Klassenprivileg! Gerade jetzt zeigen sich die Mängel des totgesparten Gesundheitssystems und die Auswirkungen dessen, dass der Neoliberalismus aus dem Gesundheitssektor einen Markt gemacht hat. Zutage kommen die Folgen der fortwährenden Prekarisierung ganzer Lebenswelten. Diese betrifft besonders bereits marginalisierte Gruppe, denn der Neoliberalismus organisiert die soziale Reproduktion entlang sozialer Gruppen:? FLINT*Personen, Migrant*innen und finanziell schlechter gestellte Leute arbeiten dabei auffallend häufig in diesem Niedriglohnsektor. Der Neoliberalismus propagiert die Ideologie eines „unternehmerischen Selbst“ und der Eigenverantwortung und kaschiert damit Maßnahmen des Sozialabbaus. Im Pflege- und Gesundheitssektor heißt das ganz konkret: Personalnot, Unter- und Fehlversorgung, sowie Entscheidungen, die nach Profitaussichten und nicht ausschließlich nach medizinischen Kriterien getroffen werden.

Die Zeit, die der staatlich garantierten Pflege in einem System zukommt, wird durch Steuern finanziert. Also je mehr Zeit für Pflege draufgeht, desto schlechter ist das für das Kapital. Deshalb ist es das Anliegen der herrschenden Klasse, die Reproduktion der Arbeitskräfte so effizient und günstig wie möglich zu gestalten. Denn dem Kapital liegt kein Interesse daran, die Lebensbedingung der Menschen zu verbessern, solange ausreichend Arbeiter*innen zur Verfügung stehen, auf die es zurückgreifen kann. Die Pflege- und Reproduktionsarbeit schafft keinen Mehrwert. Der Staat wägt also ständig ab, welche Leistungen unbedingt Not tun, um die Reproduktion der Arbeitskräfte zu gewährleisten und dabei möglichst geringe Kosten anfallen zu lassen. Mehr Personal im Krankenhaus hieße eine Entlastung der Pflegearbeit im Privaten. Und wie wir eben gelernt haben, findet der Staat als „ideeller Gesamtkapitalist“ (wie Engels sagt) eigentlich ganz gut, wenn die Familie dafür sorgt, dass Arbeiter*innen zur Verfügung stehen. Denn mehr Pflegepersonal hieße, mehr des gesamtgesellschaftlichen Mehrwerts für die öffentliche Gesundheitsversorgung bereitzustellen. An dieser Stelle setzt der Kapitalismus die Profite und nicht die Menschen als Priorität.

Auch innerhalb des Pflegesektors wird mit der Gesundheit der Menschen gespielt, die sich am wenigsten wehren können. Altenheime bieten zum Beispiel keine Möglichkeit, Profit zu generieren, denn sie „reparieren Menschen nicht für den Arbeitsmarkt“. Es ist also kein Zufall, dass dort die Lage noch drastischer ist, noch mehr Engpässe entstehen und die Pflegekräfte noch unterbezahlter sind.

2015 wurden 73% der Pflegebedürftigen in privaten Haushalten gepflegt, 48% allein von Angehörigen ohne Unterstützung.

Und gibt es dennoch Engpässe, profitiert der Staat von der Etablierung eines sog. „grauen Pflegemarkts“. Dieser Markt um die Ausbeutung migrantischer Pflegekräfte, meist aus Osteuropa, wird vom Staat reguliert und forciert, an anderen Stellen wiederum wird Migration kriminalisiert. So stehen dem Kapitalismus möglichst günstige und effiziente Arbeitskräfte zur Verfügung. Rassistische Strukturen sind Grundvorraussetzung für den Kapitalismus! Das zeigt sich auch durch die Instrumentalisierung der Staatsbürgerschaften als Maßstab zur Vergabe (bzw. Vorenthaltung) von Menschenrechten. Für Migrant*innen ist es strukturell bedingt schwieriger, zu streiken, ihre Rechte in Anspruch zu nehmen und über den Zugang zu Wissen um Anlaufstellen zu erhalten. So ist es dem Kapitalismus leichter, diese Menschen auszubeuten. Zum anderen sind diese prekär beschäftigten Arbeitskräfte darüber hinaus insofern für den Staat kostengünstig, als ihre Geburt, Erziehung und Ausbildung, also ihre Reproduktion, nicht in der Bundesrepublik stattfand.

Wir sehen also: Die Reproduktion der Arbeitskräfte beruht – ebenso wie die Kapitalakkumulation als solche – auf Ausbeutung! Und bei dieser werden marginalisierte Gruppen wie FLINT*Personen, Migrant*innen, von Rassismus Betroffene und finanziell schlecht gestellte Personen besonders stark ausgebeutet.

Deshalb ist es unser Anspruch, Klassenpolitik intersektional zu denken! Klassenpolitik muss antirassistisch sein! Sie muss feministisch sein! Sie muss sich Misogynie, Trans*feindlichkeit, Inter*feindlichkeit und Diskriminierung von nicht-binären Personen entschieden in den Weg stellen! Klassenpolitik muss verbinden!

Der erste Mai ist internationaler Tag der Arbeit. Der erste Mai ist Tag der Arbeiter*innenkämpfe. An dem es gilt,dafür zu kämpfen, den Wert der Ware Arbeitskraft aufzuwerten und den Kapitalist*innen den Teil unserer Arbeit, der uns vorenthalten wird, also den Mehrwert, streitig zu machen.

Lasst uns am Ersten Mai dafür kämpfen, uns den Kuchen zurück zu holen! Den ganzen Kuchen!

Lasst uns den Kampf gegen Kapital und Patriarchat verbindenden, denn Veränderung schaffen wir nur in kollektiven Kämpfen gegen die Ausbeutung und Unterdrückung! Seien es die Kämpfe im Krankenhaus oder Altenheim, auf Lesbos oder in Rojava, an der Uni oder im Betrieb, Zuhause oder auf der Straße… Der Kapitalismus stellt sich gegen uns alle, gemeinsam möchten wir uns gegen ihn wenden!

#1MaiHI

 

Anmerkung: Dieser Text beruht u.a. auf Annahmen der Essaysammlung Kapital gegen Leben – Beiträge zur Theorie der Sozialen Reproduktion im Kapitalismus“ von Ronda Kipka und Vincent Streichhahn. Gerade jetzt in Zeiten von COVID-19 und Pflegekrise eine Leseempfehlung!