Protestschrift mit Drama
von Erich Trosien
Der Kapitalismus im Alltag
Die Zeiten in denen wir leben, sind die Zeiten eines globalen Kapitalismus. Warum lässt diese Aussage nur so wenigen, zu wenigen, einen kalten Schauer über den Rücken laufen?
Wir haben uns an die Gesetze des Marktes gewöhnt. Für viele Menschen sind diese Gesetze so logisch und unumstößlich, wie das Gesetz der gegenseitigen Anziehung von Apfel und Newton, präziser: Wie das Gesetz des Stärkeren, des Angepassteren, der die Evolution überlebt und voran treibt. Nicht nur, dass „der Stärkere“ seltsam exklusiv männlich ist, er ist auch weiß. Trifft das nicht zu, haben unsere aasenden Medien auf der Suche nach likes und shares eine Exot*in gefunden, eine Ausnahme, die die Regel bestätigt und daher die Titelseiten verzieren darf. Vorausgesetzt, sie* ist fotogen oder zumindest exotisch genug, um sie* als Ausnahme zu zelebrieren. Was sagt der Kapitalismus dazu?
„Die Gesetze des Marktes kennen keine Diskriminierung – ob der Hautfarbe, ob des Geschlechts, wegen der Herkunft“, sagt er, aber wir müssen ihn korrigieren: Er kennt die Diskriminierung nicht, weil er sie nicht sieht, weil er sie nicht sehen will und weil er ihr nichts entgegen zu setzen vermag, als die blanke Leistungsgesellschaft. „Unser Kapitalist hat den Kasus, der ihn lachen macht, vorgesehn“, sagt Marx und der Kapitalismus frohlockt: „Habe ich nicht den Frauen das Recht gegeben, in meinen Fabriken zu arbeiten und am Verwertungsprozess teilzunehmen?“
Der Kapitalismus ist ein Meister des Versteck-Spiels. So wie er die Macht hinter seinen scheinbar naturgegebenen Gesetzen verbirgt, verbirgt er die Diskriminierungen hinter dem Traum einer* Tellerwäscherin* — Es sei einzig die harte, schweißtreibende Arbeit, die die Kapitaleigner*innen von der Arbeiter*innenschaft trennt. Denn Kapitaleigner*innen schwitzen sehr, auf ihrem Werdegang von Privatschulen, über Eliteunis und vor allem wenn ihr Profit in Gefahr ist. (Natürlich nennen sie ihren Profit „Arbeitsplätze“ und nicht Profit)
Es ertönt ein Glockenschlag, Trommelwirbel, Fanfaren: Der Vorhang öffnet sich. Auf tritt ein etwas ergrauter Herr anfang Sechzig: der Sozialstaat, der Wohlfahrtsstaat, der vom kapitalistischen Gott gesandte Jesus, der später dann an Kreuzschmerzen ob der Privatisierung einen qualvollen Tod sterben soll. Doch genug der Spoiler.
I. Akt
> Sozialstaat:
„Die Macht gehört dem Volke!“
Kapitalismus:
„Und die Lobby gehört uns.“
> Sozialstaat:
„Vox Populi, vox Rindvieh; aber deshalb gibt es jetzt die kostenlose Bildung!“
> Kapitalismus:
„Klar, kostenlose Bildung, aber unsere Kinder sind gepflegter und deshalb bei Lehrern beliebter.“
> Sozialstaat: (den Tränen nahe)
„Aber zumindest die Wahlen müsst ihr uns lassen…“
> Kapitalismus:
„Wir hätten da so ein Agenturprogramm im Angebot, wirklich tolles Marketing, wir bringen euch ganz groß raus, Wahlkampf wird jetzt viral und so!“
Der Vorhang fällt.
II. Akt
Der Sozialstaat hat sich umgezogen, er trägt jetzt gelb/blau und möchte ab sofort „Wohlfahrtsstaat“ genannt werden. Es Gibt Schampus und Kaviar.
> Wohlfahrtsstaat:
„Halli-Hallo, der Wohlfahrtsstaat ist wieder da! Menschen arbeitet, kauft ein, gönnt euch ein schönes, teures Leben! Und liebe Unternehmen, wachst! Werdet größer und größer, damit ihr ab und zu den Lohn anheben könnt und vergesst nicht, euch den Rest auszuzahlen! Wenn noch was übrig ist: Zahlt doch bitte ab und zu Steuern, aber nur so viel, dass ihr euch noch deutsche Arbeitskräfte leisten könnt!“
> Kapitalismus:
„Klasse! Wir hätten da gern noch eine private Renten- und Krankenversicherung, damit die hart arbeitenden Vielverdiener nicht so lange beim Arzt warten und außerdem nicht die Rente vom ganzen Pöbel mitbezahlen müssen.“
> Wohlfahrtsstaat:
„Klar, macht mal. Zwei-Klassen-Gesundheit ist voll inn zur Zeit. Prost!“
> Kapitalismus:
„Dankeschön! Und sagt mal, wo wir schon dabei sind: Sollen wir euch Post, Telekom, Bahn und Lufthansa abnehmen? Die kosten euch doch eh nur…“
> Wohlfahrtsstaat:
„Freie Fahrt für freie Bürger! Staatsverschuldung ist uncool, wir machen mal Schuldenbremse.“
> Kapitalismus:
„Merci! Noch ein Gläschen Schampus?“
> Wohlfahrtsstaat
„Immer her damit!“
> Kapitalismus:
„Wie wär’s wenn wir gleich noch die Krankenhäuser und Pflegeheime übernehmen? Ist doch bloß Last für euch?“
> Wohlfahrtsstaat: (inzwischen reichlich angetrunken)
„Jajajajaja, das’s doch alles Garkeinproblem.“
III. Akt
Ein etwas lädierter Kapitalismus tritt auf. Wohlfahrtsstaat und Sozialstaat erleben eine Dissoziation.
> Sozialstaat:
„Corona! Corona! Bleibt alle zu Hause!“
> Kapitalismus:
„Aua, aua, aua! Wenn niemand arbeitet, wer erwirtschaftet dann unseren Mehrwert?“
> Wohlfahrtsstaat: (etwas verkatert von der Party gestern)
„Jaaaa, also Rettungsschirm und so, wir packen da mal ein Päckchen…“
> Sozialstaat:
„Haben wir dann noch Geld für die Arbeiter*innen?“
> Wohlfahrtsstaat:
„Wir machen Kurzarbeit. Das schützt die Unternehmen UND die Arbeiter*innen!“
> Kapitalismus:
„Das reicht doch alles nicht! Bürger, kommt alle wieder zur Arbeit! Und wehe ihr macht Urlaub, wir brauchen euch jetzt!“
> Sozialstaat (übergibt sich)
> Wohlfahrtsstaat:
„Was’n bei dir los, ich dachte, ich war gestern feiern, nicht du!?“
> Sozialstaat:
„Wir sind Eins, du Depp!“
Der Kapitalismus nimmt eine Handvoll Krupp-Nägel® in die eine und einen Hammer von Dior® in die andere Hand und nagelt den mit sich selbst Streitenden Staat an ein Andreas-Kreuz.
> Kapitalismus:
„Damit wir uns immer an euch erinnern. War nett mit euch, danke und kommt bitte nur wieder, wenn ihr einen Rettungsschirm dabei habt.“
Der Vorhang fällt. Das Publikum applaudiert. Am Ende geben die Stars noch Autogramme. Am Merch-Stand ist großer Andrang: Alle wollen einen Dior®-Hammer kaufen. Die weniger wohlhabenden posten stolz Selfies mit einem Krupp-Nagel® an der Schläfe.
Wir erleben derzeit eine globale Krise. Der haltlos beschleunigte Kreislauf von Konsumption, Wertschöpfung und Verwertung ist zum Stillstand gekommen. Die Corona-Pandemie hat einen klaffenden Abgrund in die Fassade des schönen und geordneten Lebens gerissen. Es sind nur zwei Monate vergangen, seit die globale Warenzirkulation auf das nötigste beschränkt wurde. Wenn wir ehrlich in uns selbst gehen und uns fragen, was wir in diesen zwei Monaten am schmerzlichsten vermisst haben, wird es kaum der Einkaufsbummel im nahegelegenen Autohaus gewesen sein. Unsere Kleiderschränke haben sich ebensowenig entleert, wie unsere Telefone verrostet sind oder oder wie wir ob des ausgefallenen Fluges nach Frankfurt ein Meeting verpasst haben, dass dann doch per Videokonferenz stattfinden konnte.
Nur die Kühlschränke haben nicht aufgehört, in den Gezeiten des Supermarktbesuchs ihre Ebbe zu präsentieren. Es ist nicht der Mond, der das Essen in den Kühlschrank spült. Es ist das Geld. Es ist jener Tauschwert, der wirklich essentiell ist, der, den wir aufwenden müssen um unsere Reproduktion zu gewährleisten. Von allen anderen Werten können wir eine Pause verschmerzen. Aber der haltlos beschleunigte Kapitalismus kann diese Pause nicht verschmerzen. Er schreit nach Lockerungen und Lösungen, nach Hilfspaketen und der Solidarität der Arbeiter*innen und Konsument*innen.
Unsere Arbeitsplätze hängen an einer Blase unnötiger Werte und diese Blase ist im Begriff zu platzen. Sie platzt, weil sie darauf angewiesen ist, dass neue Waren schneller konsummiert werden, als die alten ihren Gebrauchswert verloren hätten. Sie platzt, weil wir den Überfluss nicht sehen können, den uns der Kapitalismus als Mangel verkauft.
Vielleicht ist es Zeit, aus der Traufe in den Regen zu treten. Vielleicht ist es Zeit, sich zu fragen, was nötig ist und was nicht. Jetzt mehr denn je. Denn der Zwangsentzug vom Kaufrausch, welcher den Dealern einen kaltschweißigen Turkey beschert, gibt uns Raum inne zu halten. Nur kurz. Bevor wir wieder in den glänzenden Schaufenstern der Einkaufszentren versinken. Bevor wir wieder in den heiligen Tempeln das Geldopfer bringen können, damit die Marken-Götter uns reich mit Schönheit, Ansehen und vor Allem: Lebensgefühl, beschenken.